Damals - heute


Konzentration auf das Wesentliche?

Ein typisches Merkmal für die Entwicklung der Medizin ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ist die ‘zoomartige’ Verengung ihres Blickes auf kleine und kleinste Körperstrukturen. Anders gesagt: Die Gesamtsicht wird zugunsten der Detailstudie aufgegeben. Der von Hebrasche Hautatlas dokumentiert diese Tendenz eindrucksvoll. Zwar sind in den Abbildungen die dargestellten Körperregionen in aller Regel lebensgroß wiedergegeben. Zwar legen die Künstler gerade auch in den Krankenporträts großen Wert auf die Mitteilung physiognomischer Einzelheiten und erwecken damit beim Betrachter den Eindruck, eine Persönlichkeit in ihrer physischen und psychischen Gesamtheit vorgestellt zu bekommen. Dennoch wird in diesem großformatigen Hautatlas nie der ganze Körper abgebildet, sondern immer nur ein Ausschnitt ins Bild gerückt. Deutlicher wird die ‘Konzentration auf das Wesentliche’ auf jenen Blättern, die den Patientenkopf nicht zeigen: Hier eine Hand, dort ein Fuß oder gar eine schwer lokalisierbare Region am Rumpf. Auf diesen Darstellungen ist der Kranke gänzlich seiner Individualität beraubt. Die Körperpartie wird zum anonymen Ort ”des ewig Unveränderlichen ... der Krankheit selbst” (von Hebra). Das Leiden wird quasi vom Rest des Leidenden isoliert. Diese distanzierende Darstellungsweise mag beim Betrachter das Entsetzen mildern und somit einer Versachlichung des medizinischen Blickes dienen; sie birgt aber gleichzeitig die Gefahr, daß der lernende Arzt den kranken Menschen vergißt.